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26.04.2024

DR. WATSON exklusiv

Sag nicht Lebensmittel!

Forscher suchen nach einem passenden Namen für Produkte, die uns krank machen

Produkte zum Schlucken: Neuer Name gesucht für Sachen, die krank machen.
DR. WATSON

Insgesamt 32 Krankheiten werden durch Tiefkühlpizza, Babygläschen, Müsliriegel & Co gefördert. Auch vorzeitiges Ableben. Und das sollen „Lebensmittel“ sein? Passt irgendwie nicht.



Es geht um die Erzeugnisse von ehrenwerten Gesellschaften: Kellogg’s. Danone. Hipp. Nestlé. Ferrero. Pfanni. In Medien und Öffentlichkeit haben ihre Namen immer noch einen guten Klang.  

 

Doch in der Medizin gelten ihre Produkte als „stille Killer“, und die Verbraucher in den USA fürchten sie schon als Gesundheitsrisiko Nummer 1

 

Hierzulande haben auch sie immer noch einen erstaunlich guten Ruf: Das Kartoffelpüree aus dem Beutel. Das Müsli aus dem Pappkarton. Der Babybrei aus dem Gläschen. Der Fertigjoghurt aus dem Plastikbecher. Der Instant-Kakaodrink. Der Brotaufstrich für Kinder. Oder das Mittagessen in der Kita von der Kochfabrik Apetito.

 

Der Fachbegriff dafür: „ultra-verarbeitete Lebensmittel“. Sie sind bei insgesamt 32 verschiedenen Krankheiten im Spiel und führen sogar häufig zu einem vorzeitigen Tod, wie gerade wieder eine Untersuchung im renommierten Medizinerblatt British Medical Journal (BMJ) ermittelt hat.

 

Und so etwas nennen wir „Lebensmittel“?

 

Viele wundern sich seit langem, dass so etwas über zum menschlichen Verzehr angeboten werden darf. Wo es sich doch eher um Mixturen aus der Hexenküche der Chemie handelt.

 

Nennt sie nicht Lebensmittel!

Nennt sie nicht Lebensmittel! Das fordern jetzt sogar Fachleute in aller Welt.

 

„Es ist an der Zeit, hochverarbeitete Produkte beim wahren Namen zu nennen“, schrieb diesen Monat eine internationale Forschergruppe um die Medizinprofessorin Susan L. Prescott (Not Food: Time to Call Ultra-Processed Products by Their True Name).

 

Wir sollten sie „vielleicht nicht mehr als Lebensmittel bezeichnen, weil sie sehr weit von den ursprünglichen Lebensmitteln entfernt sind“, riet auch der berühmte brasilianische Professor Carlos A. Monteiro, bei der jüngsten Konferenz der US-Ernährungsgesellschaft.

 

Er hatte mit seinem Forschungsteam das „NOVA“-Klassifikationssystem entwickelt, das unser Nahrungsangebot nicht nach Nährstoffen, Schadstoffen, Kalorien einteilt, sondern nach der Distanz von der Natur. Am weitesten entfernt, auf Stufe 4: die „ultra-verarbeiteten“ Produkte.

 

Das Konzept hat eine steile Karriere gemacht, ungezählte Forschergruppen in aller Welt haben die Auswirkungen dieser Produkte aus Supermarkt, Tankstelle, Kantine untersucht – und die gesundheitlichen Folgen für die Menschen auf diesem Planeten.

 

Diese „ultra-verarbeiteten“ Produkte haben praktisch nichts mehr mit dem gemein, was die Menschheit seit Jahrtausenden am Leben gehalten hatte: Bananen, Kartoffeln, Mangos, Milch, Hühnchen.

 

Von der Welt der echten Lebensmittel haben sie sich weit entfernt. Ihre Haltbarkeit wurde künstlich verlängert, auf mehrere Jahre sogar, wie bei den Babygläschen von Hipp. In der Natur ein Ding der Unmöglichkeit. Der Geschmack stammt zumeist aus dem Labor, wie bei den sogenannten Fruchtjoghurts von Danone oder Landliebe. Manche enthalten praktisch gar keine natürlichen Bestandteile, wie die Softdrinks von Coca-Cola, Pepsi oder Red Bull.

 

Millionen von Opfern

Es geht natürlich nicht nur um die Bezeichnung. Es geht auch um das Bewusstsein, und um unsere Beziehung zu den Dingen. Erkennen beginnt mit Benennen. Begreifen mit Begriffen. Und da spielt es eine große Rolle, ob nachweislich höchst gefährliche Produkte mit beschönigenden Begriffen verharmlost werden.

 

„Lebensmittel“?

 

Sie dienen nicht dem Leben, sondern gefährden und verkürzen es.

 

Insgesamt fallen ihnen jedes Jahr Millionen von Menschen zum Opfer, so eine Untersuchung, die von der Bill & Melinda Gates Foundation finanziert wurde.

 

Selbst Nestlé, der weltgrößte Hersteller solcher Produkte, soll nach internen Dokumenten eingeräumt haben, dass über 60 Prozent seines Angebotes ungesund sei.

 

Die jüngst erschienene Studie im British Medical Journal (BMJ) hat nach allen Regeln der sogenannten evidenzbasierten Medizin ermittelt, mit welchen Gesundheitsfolgen zu rechnen ist. An der Spitze der Liste mit 32 Krankheiten liegen die größten Killer auf diesem Globus. Die Herz-Kreislauf-Erkrankungen und die sogenannte Zuckerkrankheit („Typ-2-Diabetes“). Außerdem jene Leiden, die bei den Krankschreibungen immer neue Höchststände erreichen:  psychische Störungen. Hier gebe es „direkte Zusammenhänge“ zum Verzehr der „ultra-verarbeiteten“ Produkte. Evidenzklasse: I („Überzeugende Evidenz“).

 

Schlafstörungen durch Supermarktwaren

„Sehr aussagekräftige Beweise“ (Klasse II) deuteten zudem darauf hin, dass mehr „ultra-verarbeitete“ Produkte „direkt verbunden“ seien mit Fettleibigkeit, die ihrerseits bekanntlich das Risiko für diverse Folgekrankheiten erhöht, und einem (dadurch) drohenden vorzeitigen Tod. Selbst Schlafstörungen seien oft nachweislich auf diese „ultra-verarbeiteten“ Supermarktwaren zurückzuführen.

 

Die internationale Forschergruppe sah in ihren Daten auch eine Aufforderung an die Politik, den Konsum „gezielt zu reduzieren und so die menschliche Gesundheit zu verbessern.“

 

Was alles neu benannt werden musste, steht  auf der Liste der Nicht-Lebensmittel in der Studie von Prescotts Forschergruppe:

 

Da geht es natürlich um Hamburger und Softdrinks, aber auch um Backmischungen, die Tiefkühlpizza, Toastbrot und Brötchen aus der Fabrik, Instantnudeln, auch Instant-Saucen (einschließlich Suppen), um Fertigsnacks, die Eiscreme, die vor allem bei Kindern beliebt ist, wie auch Bonbons, Kekse. Sogar vermeintlich Gesundes, wie Fitnessriegel, sogenannte Frühstückszerealien wie Cornflakes oder Fertigmüsli, Margarine, den berühmten „Frucht“-Joghurt, die sogenannten „Frucht“-Drinks, auch „Kakao“-Getränke. Außerdem „synthetische Nahrung“ wie die veganen Fleischersatzprodukte. Pseudo-Ei, Fake-Hamburger, Käse-Imitate, Nicht-Schnitzel.

 

Parallelwelt der Nahrung

Eine Parallelwelt der Nahrung – die das Echte schon weitgehend verdrängt hat.

 

Bei uns soll es über 50 Prozent all dessen sein, was die Leute schlucken. In den USA schon 60 Prozent, und über 70 Prozent des Angebotes in den Supermärkten.

 

Noch schlimmer ist es bei den Kindern. Viele kommen gleich zu Beginn ihres Lebens auf eine Ultra-Quote von 100 Prozent, mit Milch aus dem Fläschchen, dem Brei aus dem Gläschen, Vitaminbonbons.

 

Besonders verhängnisvoll ist der Eroberungsfeldzug der Konzerne und ihrer ultra-verarbeiteten Produkte im sogenannten Globalen Süden, also den ärmeren Ländern dieser Welt.

 

Dort ächzen die ohnehin unzureichenden Sozialsysteme unter der wachsenden Krankheitslawine, die für viele Familien zum Lebens-Drama wird. Insbesondere für die Frauen, beklagt Professorin Prescott.

 

Gerade für sie wäre es von geradezu existenzieller Bedeutung, über den wahren Charakter dieser Produkte im Bilde zu sein.

 

Denn die Machtübernahme der Konzerne, vom „westlichen Feminismus“ oft bejubelt, hatte für die Frauen in den Ländern des Globalen Südens „nicht nur Vorteile“.

 

Vom heimischen Herd zum Krankheitsherd

Zum einen sind sie natürlich Opfer der Krankheitslast, leiden selbst an Symptomen, müssen zudem ihre erkrankten Angehörigen pflegen. Zugleich wirken sie, ohne es zu wissen, an der weiteren Verbreitung mit, der vielen Folgekrankheiten durch die neuen, „ultra-verarbeiteten“ Produkte.

 

So verloren sie ihre Funktion als Hüterinnen der Ernährung („nutritional gatekeeper“), die tatsächlich ihre Familien am Leben erhielten, die Männer, die Kinder. Und auch den überlieferten Wissensschatz weitergaben, zu Zubereitung und Wirkung der traditionellen Gerichte. 

 

Diese Machtbastion der Frauen haben die expansiven Food-Konzerne gründlich entkernt – und für ihre eigenen Konzerninteressen missbraucht. Sie haben die Autorität der Frauen in Ernährungsdingen ausgenutzt – und sie vor ihren (Verkaufs-) Karren gespannt.

 

Die New York Times hatte das sehr eindrucksvoll beschrieben am Beispiel der Elendsviertel in Brasilien, wo Frauen durch die Gassen ziehen mit einem Nestlé-Karren – und mit ihm die einschlägigen Krankheiten verteilen.

Nestlé-Verkaufstrupp im Elendsviertel: Eine bessere Welt - und alle sind krank? Screenshot: NYT

Eine bessere Welt?

Celene da Silva (29): über 100 Kilo, Bluthochdruck. Joana D'arc de Vasconcellos (53): Diabetes, Bluthochdruck. Der Vater starb vor drei Jahren, hatte beide Füße durch Diabetes-Folgen verloren. Die Mutter und zwei Schwestern: Diabetes, Bluthochdruck. Der Ehemann: Bluthochdruck. Ihre Tochter (17): Bluthochdruck, poly-zystisches Ovarialsyndrom, eine mit Fettleibigkeit verbundene Hormonstörung.

 

Der Unilever Konzern (Knorr, Pfanni) hat offenbar ganz ähnliche Vertriebsstrategien, und spannt sie ebenfalls ein, um „als Kleinstunternehmerinnen unsere Produkte zu verkaufen“, wie der Chef einmal in einem Interview stolz verkündete, mit dem Spiegel – der daraufhin in helle Freude ausbrach, weil der Brühwürfel-Boss mit „seinen Produkten eine bessere Welt schaffen“ wolle.

 

In Wahrheit ist es natürlich der Gipfel von Arroganz und Zynismus: Ausgerechnet die Frauen, die ihre Autorität der Verantwortung für das Leben verdanken, die Hüterinnen des Herdes, wurden so gleichsam zu Krankheitsherden umfunktioniert.

 

Die Coca-Kolonisierung 

Die Verbreitung der „westlichen Ernährung“ – und der zugehörigen Krankheiten im „Globalen Süden“: Der australische Diabetes-Pionier Professor Paul Zimmet nannte es die „Coca-Kolonisierung“ der Welt. Wobei es natürlich nicht nur um Coca-Cola geht, sondern auch all die anderen.

 

„Wie ändern wir den Kurs?“ So fragt das Prescott-Papier.

 

Die Befreiung beginnt natürlich mit der Rückeroberung der Begriffe. Der Weg aus der (in diesem Fall nicht selbstverschuldeten) Unmündigkeit führt bekanntlich über die Aufklärung. Erkennen fängt mit Benennen an. Der Weg zur kulinarischen Selbstbestimmung führt über das Begreifen der Verhältnisse – und die nötigen Begriffe.

 

Eine neue, eine angemessene Bezeichnung muss also her für das „Zeug“ aus Labors und Fabriken, wie es die indische Wissenschaftlerin und Aktivistin Vandana Shiva genannt hat, Trägerin des sogenannten „Alternativen Nobelpreises“.

 

„Ess-Zeug“. Das wäre eine Option. Oder „Lebensmittelähnliche Objekte”.  Prescott führt einige Alternativ-Begriffe an. „Scheinnahrungsmittel“ wäre auch eine Möglichkeit. Oder: „Pseudolebensmittel“. In den Überschriften heißt es oft: „Junk Food“. Also: Müllnahrung.  Fast schon etabliert ist: „Fake Food“, also „gefälschte Nahrung“.

 

Natürlich wären dann auch Konsequenzen fällig. Diese Falschnahrung müsste selbstverständlich gleich behandelt und entsprechend geahndet werden wie Falschgeld.

Wer dieses „als echt in Verkehr bringt“, wird nach Paragraph 147 des Bürgerlichen Gesetzbuches bestraft, es droht sogar Gefängnis, bis zu fünf Jahre.

 

Drakonische Strafen für Essens-Fälscher

Früher waren sogar noch weit drakonischere Strafen üblich, für den Betrug am Körper. Schließlich geht es hier um schwerwiegende Folgen für Leib und Leben, heute noch weit mehr als früher.

 

Klar: Natürlich wird es Gegenwind geben. Natürlich werden sich die Konzerne nicht kampflos ergeben. Umso wichtiger ist es zu wissen, wo man steht, im Krieg um die Lufthoheit über den Esstischen.

 

Professorin Prescott hat ihre Konsequenzen schon gezogen. Ihren Posten in einem Wissenschaftlichen Beirat des Nahrungsmultis Nestlé hatte sie gekündigt. Sie wollte nicht „auf der falschen Seite der Geschichte« stehen.

 

Mehr zum Krieg ums Essen:

Hans-Ulrich Grimm:

Food War

Wie Nahrungsmittelkonzerne und Pharmariesen unsere Gesundheit für ihre Profite aufs Spiel setzen

Coca-Cola-Werbung im Südsee-Königreich Tonga. Foto: DR. WATSON